Lieber viele kleine Krisen als die eine, lang negierte große

13.07.2021

Uwe Rühl koordinierte Einsätze in Notfallleitstellen. Dann begann er, Unternehmen in Krisensituationen zu beraten. Wie der Lebensretter aus der „Blaulicht-Welt“ Firmen resilienter, und damit langfristig erfolgreicher machen will, verrät er im Interview.

Herr Rühl, was sind die drei wichtigsten Regeln für das Krisenmanagement von Unternehmen?

UWE RÜHL: Erstens: Sie müssen definieren, was Ihr Unternehmen als „Krise“ versteht. Aus der Blaulicht-Welt weiß ich: In eine Katastrophe „schlittert“ man nicht hinein, eine Katastrophe wird „erklärt“. Denn: Situationen lassen sich nicht beherrschen, wenn keine Einigkeit über die Lage besteht. Genauso wie in Leitstellen eine Katastrophen- oder Sonderlage erklärt wird, muss auch in Unternehmen eine Krise verbindlich erklärt werden.

Wie funktioniert das im Detail?

Ich schaue mir bewusst an, wie die Situation aussieht, und warum mit den üblichen Führungsinstrumenten in dieser Lage nichts zu machen ist – und erkläre eine Krise. Dazu gehört im Unternehmenskontext zwingend auch eine Definition dafür, wann und unter welchen Umständen die Krise wieder beendet ist. Die Coronakrise ist ein Paradebeispiel dafür: Wann beende ich ein Corona-Krisen-Board, wie es viele Firmen im Februar oder März 2020 eingeführt haben? Das mag von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sein, aber man muss definieren, dass sie unter bestimmten Umständen bewältigt ist, und wer darüber entscheiden soll. Oft ist die Erklärung einer Krise einfacher als ihre Beendigung.

Nun haben Sie zur Bewältigung noch nichts gesagt.

Dazu muss man die zweite Regel für das Krisenmanagement von Unternehmen befolgen: Finden Sie Krisenhandwerker im eigenen Unternehmen, bringen Sie sie so früh wie möglich zusammen, und hören Sie auf sie. Krisenmanagement ist nichts anderes als Handwerk, und zum Handwerker werden Sie nicht, wenn Sie die Theorie beherrschen, sondern wenn Sie selbst mal Krisen gemanagt haben. Deshalb tut die Unternehmensführung gut daran, im eigenen Unternehmen lange vor einem Ernstfall die Krisenhandwerker zu identifizieren: freiwillige Feuerwehrleute, Menschen mit militärischer Erfahrung oder ehemalige Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks. Diese Krisenhandwerker müssen fortan im Krisenfall die Informationen, die verfügbar sind, prüfen, bewerten, eine Lage beurteilen und kommunizieren können, und Empfehlungen dazu geben, wie zu reagieren ist.

Wie sieht das konkret aus?

Wie der sogenannte Katastrophenschutzstab in der Blaulicht-Welt: Da gibt es einen „Sichter“, der die eingehenden Meldungen prüft. Es gibt jemanden, der sich die Situation vor Ort anschaut und die Lage für alle leicht verständlich darstellt. Es gibt jemanden, der den Kontakt zu den beteiligten Notfallteams hält und die Lage bearbeitet usw. Übertragen auf den Wirtschaftskontext:  Es sollte klar aufgeteilte Funktionen des Krisenmanagements geben, und diese Krisenhandwerker sollten dann im Ernstfall ganz genau wissen, was ihre Aufgaben sind, was nicht – und wie lange sie gebraucht werden.

Das heißt: Die beliebten „Katastrophenschutzpläne“ sind gut und schön, aber wichtiger ist es eigentlich, ein gut aufgestelltes Team zu haben, das weiß, wie es im Ernstfall handeln muss? 

Ja. Sie können schlicht nicht alles planen. Und Katastrophen sind Katastrophen, weil man sie eben vorher nicht auf dem Zettel hatte – oder haben konnte. Sie passieren! Egal, wie gut man glaubt, vorbereitet zu sein. Und dann, im Ernstfall, helfen Ihnen vor allem die Handwerker. Denn die verfallen nicht in Panik und Aktionismus. Strukturell sind Katastrophen und ihre Bewältigungsmechanismen übrigens nicht so verschieden, selbst wenn alle glauben, nun sei alles anders oder neu. Deshalb gilt: Üben, üben, üben! Das ist meine dritte Regel für erfolgreiches Krisenmanagement in Unternehmen.

Wie „übt“ man denn Krise? Und: wie findet man im Arbeitsalltag Zeit dafür?

Guter Punkt. Üben ist nervig, denn es kostet Zeit und Energie. Das ist in Unternehmen nicht anders als bei der Freiwilligen Feuerwehr. Aber sie gehören dazu. Nicht dreimal wöchentlich, aber doch öfter als alle drei Jahre mal. Und natürlich muss daran nicht das ganze Unternehmen beteiligt sein! Wenn die Krisenhandwerker sich einmal im Quartal zusammentun, Abläufe einstudieren und sich gegenseitig testen – das heißt: ein Szenario ausdenken und entsprechend ihrer Rollen reagieren – reicht das schon. Abläufe sind alles! Deshalb gilt auch: Jede dieser Krisenhandwerkerpositionen sollte dreifach besetzt sein. Wenn einer krankheitsbedingt ausfällt und ein anderer gerade im Urlaub ist, haben Sie dann wenigstens einen Dritten zur Hand, der seine Zuständigkeiten kennt. Kann seine Position im Ernstfall nicht besetzt werden, steigt die Gefahr, dass der Informationsfluss versickert und das Chaos nur noch größer wird.

Diese Krisenhandwerker unterstützen und entlasten dann also das unternehmerische Führungsteam beim Entscheiden. Was ist aber, wenn der CEO glaubt, es selbst am besten zu wissen? 

Beim Thema Hierarchien hilft es, die Zuständigkeiten und Befugnisse im Vorfeld zu definieren. Wenn eine Führungskraft den Sinn eines neuen Krisenmanagementsystems sieht, sollte sie auch einsehen können, dass die Krisenhandwerker im Zweifel mehr Befugnisse haben als viele andere Entscheider im Unternehmen – und ein CEO, der von seinen Handwerkern überzeugt ist, wird dann auch im Einklang mit ihnen entscheiden. Außerdem hilft es, wenn die Leitung des Krisenstabs an jemanden übertragen wird, der innerhalb des Unternehmens auch im ökonomischen Führungsteam sitzt. So ist gewährleistet, dass Teile des Unternehmens, die von einer Krise nicht betroffen sind, unbehelligt vom Management derselben bleiben – und Abteilungen, die besonders betroffen sind, involviert werden. Ein Datenschutzvorfall mit großer Wirkung in der Öffentlichkeit, zum Beispiel, braucht andere Entscheider im Krisenstab als die Corona-Pandemie.

Kennen Sie Unternehmen, denen das Befolgen dieser drei Regeln auch bei der Bewältigung der aktuellen Coronakrise geholfen haben?

Jede Menge. Ein großer deutscher Konzern, den ich berate, hat genau mit den eben genannten Basisfunktionen einen Krisenstab aufgebaut, und nutzt ihn aktuell, um zu steuern, wie man auf die Pandemie reagiert. Nach einem anfänglich starken Ausbau des Stabs, als immer mehr Reisewarnungen ausgesprochen wurden, erste Schließungen von Schulen, Unternehmen, Stadtvierteln oder Regionen in Asien bekannt wurden, ist der Konzern aktuell daran, den Stab wieder etwas zurück zu bauen, da einige Ziele, die er mit dem Krisenmanagement erreichen wollte, erreicht sind. Die Krise ist also in einigen Teilen des Unternehmens nun keine „Krise“ laut gefasster Definition mehr. Ein anderes Unternehmen, das in der Reisebranche tätig ist, und dessen wirtschaftliche Situation sich zusehends verschlechtert hat, baut hingegen den Stab aktuell weiter aus – da sich erste Annahmen zur Erholung der Situation nicht bestätigt haben. Nun ist dort ein erweitertes Krisenmanagement gefordert. Allerdings: Der Stab hat gleich zu Beginn der Krise damit begonnen, unterschiedliche Szenarien zum Verlauf der Krise durchspielen zu lassen. Deshalb hat die Firma nun mehrere Handlungsoptionen, die nicht erst noch entwickelt werden mussten, als es schlimmer wurde. Das Denken in Optionen spart also nicht nur wertvolle Zeit, es macht Firmen resilienter – selbst dann, wenn sich die Krisensituation verschärft. m anfänglich starken Ausbau des Stabs, als immer mehr Reisewarnungen ausgesprochen wurden,

Quelle: https://www.capital.de/wirtschaft-politik/uwe-ruehl-lieber-viele-kleine-krisen-als-die-eine-lang-negierte-grosse zuletzt abgerufen am 22.08.2021

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